Wir dachten, uns würden Menschenmassen in Tokyo erwarten, doch selbst in der 25 Millionen Metropole Japans ist es an einem Sonntag vergleichsweise ruhig – es gelingt uns doch tatsächlich in Shinjuku, der größten und wahrscheinlich auch mit Abstand unübersichtlichsten Bahnstation des ganzen Landes, wenn nicht gar des ganzen Planeten, sofort den richtigen Ausgang zu finden. Wir beziehen unsere kleine Wohnung in diesem Bezirk, der eine Mischung aus Business, Rotlicht, Shopping und Ausgehviertel ist, wobei – eigentlich findet sich diese Mischung an sehr vielen Orten in Tokyo wieder.
Shinjuku schauen wir uns am ersten Tag zunächst einmal von oben an – vom Tokyoter Rathaus, einem etwa 40-stöckigen Wolkenkratzer, bekommt man einen ersten Eindruck von den unvorstellbaren Ausmaßen dieser Stadt: Beton, Stahl und Glas so weit das Auge reicht, ein Ende der Stadt ist nicht zu erahnen. Am Abend erwacht Shinjuku jenseits des Bahnhofs zum Leben - in Kabukicho, dem Rotlichtviertel und den umstehenden Bezirken drängen sich die Massen zur Party, zum Essen, zur Karaoke oder zum gepflegten Slot-Machine spielen. Das Essen kann man sich übrigens in vielen Restaurants direkt an einem Automaten bestellen und bezahlen. Während man sich erst ein wenig wundert, ob die Japaner so unnötigen Menschenkontakt vermeiden wollen, lernt man diese etwas seltsame Form der Restaurantbestellung schnell zu schätzen: Für Sprachunkundige ist die Auswahl von Bildchen und der Einwurf von Münzen ein absoluter Segen und garantiert schnelle und stressfreie Sättigung.
Und natürlich machen wir unsere ersten Erfahrungen mit den großartigen Menschen dieses Landes: Japanerinnen und Japaner stellen sich gerne an – das kennt man ja schon aus Nordeuropa: „Oh, da ist eine Schlange, lass uns dazustellen, da muss es etwas Feines geben“; Englisch ist nicht so sehr verbreitet, das führt zu absurden, wie auch witzigen Situationen: beim Einkaufen oder im Restaurant etwa kann man nur freundlich lächeln, sein Gegenüber allerdings überschüttet einen mit feinstem Japanisch – man freut sich, lächelt und verabschiedet sich mit einem „Arigato“ – und hat kein Wort verstanden.
Wenn etwas in Japan gilt, dann: Safety First! Es ist sehr amüsant, wo überall freundliche Menschen stehen, sitzen oder fahren und den Weg weisen, Hallo! sagen oder einen davon abhalten, etwas zu tun. Regeln scheint es in diesem Land ebenso viele zu geben wie in Deutschland, vielleicht sogar noch mehr. Über ein Rätsel sind wir während unseres Aufenthaltes übrigens gestolpert: Es bleibt völlig unklar, was mit den Massen an Müll geschieht, die der Durchschnittsjapaner (und Durchschnittstourist) täglich so produziert: Jeder Einkauf wird getrennt nach Art noch einmal eingewickelt, zugeklebt und gegebenenfalls mit Wegwerfeistütchen versehen und in Plastikbeutel verpackt, die anschließend in eine Tüte gelegt werden. Wenn man selbst anschließend versucht, seinen Müll loszuwerden lernt man schnell: Abfalleimer sind eine schützenswerte Rarität in diesem Land. Daher haben wir unseren Müll zeitweise stundenlang durch die Gegend gefahren und dann in einen Eimer geworfen, der eigentlich – Achtung Regelkonformität – ausschließlich für PET-Flaschen vorgesehen war – das führt natürlich zu bösen Blicken. Was die Japaner stattdessen mit ihrem Müll machen, haben wir nicht herausgefunden, in der Stadt bleibt davon in jedem Fall nichts zurück.
Die nächsten Tage schauen wir uns Shibuya an: Hochhäuser, Shoppinghölle, Leuchtschriftparadies und die berühmte Kreuzung, bei der alle Fußgänger auf einmal grün bekommen und sich gefühlt 10.000 Menschen auf einmal über die Straße wälzen. Witzigerweise braucht man sich nur drei Minuten von diesem Menschenwahnsinn wegbewegen und man steht in einer kleinen Gasse, in der sich Kneipe an Kneipe reiht, in die jeweils nur fünf Menschen passen – und das ist Japan: ein Land der Gegensätze, gerade noch Glitzer und BlingBling, wartet um die Ecke bereits ein uralter Tempel und Räucherstäbchenaroma und zeigt das andere, traditionelle Japan.